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Auswirkungen der Coronakrise auf Betroffene von sexualisierter Gewalt und auf die Beratungsstelle

Wir möchten Sie gerne über einige fachliche Überlegungen informieren, die uns gerade sehr beschäftigen. Die folgenden Ausführungen können ungewollt Erinnerungen auslösen.

Sexualisierte Gewalt – gleichgültig ob sie aktuell erlebt wird oder in der Vergangenheit eines Menschen stattgefunden hat – geht auf Seiten der Betroffenen immer mit massivem Erleben von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein einher. Die meisten Menschen entwickeln als Gegenstrategie ein überdurchschnittliches Bedürfnis nach Kontrolle und Selbstbestimmung.

Dieses Bedürfnis bzw. das andauernde Gefühl von Unsicherheit und Schutzlosigkeit steigert sich noch, wenn die Betroffenen keine genauen Erinnerungen an ihre Täter*innen haben, der Täter*innenkreis so groß ist, dass es nicht mehr gelingt, eine einzelne Personengruppe zu isolieren, oder die Täter*innen sich verborgen haben z.B. hinter Masken oder Verkleidungen, wie es in organisierten Kreisen der Fall sein kann.

Ein weiterer eng mit dem Thema verbundener Aspekt sind die körperlichen Reaktionen, die schon allein aufgrund der erlebten Angst zu den Gewaltsituationen gehören: Panikreaktionen wie Herzrasen, Atemnot, Schwindel, um nur einige zu nennen. Viele Betroffene erleben diese Körperreaktionen ihr Leben lang, wenn sie etwas ängstigt.
Dies ist schon in „normalen“ Zeiten eine dauernde Herausforderung in Alltag, Beruf oder Beziehung.

Viele Aspekte der Coronakrise sind den alten Situationen ähnlich und lösen aktuell massive Krisen aus, die zu den schon vorhandenen Problemen dazu kommen:

  1. Das Virus scheint nicht kontrollierbar: ich kann es nicht wahrnehmen und habe keine Kontrolle.
  2. Ich kann erkranken und muss gegebenenfalls ins Krankenhaus, ein Ort an dem ich grundsätzlich aushalten muss, dass ich angefasst werde und mit meinem Körper etwas gemacht wird. Da hilft es auch nicht, wenn der Verstand weiß, dass es „nur zu meinem Besten“ geschieht. Die Beatmung und Behandlung im künstlichen Koma, falls ich intensivpflichtig werde, liefert mich noch mehr aus und bedeutet völligen Kontrollverlust.
  3. Das Thema ist allgegenwärtig, ich kann mich nicht entziehen. Weder im Alltag noch in den Medien.
  4. Schutzmaßnahmen wie Atemmasken führen zu massiven Alltagsproblemen: viele Betroffene können sie selber nicht tragen, weil es Atemnot bei ihnen auslöst, einige werden durch die Masken der anderen an Gewaltsituationen erinnert. Ohne Maske kann man nicht Bus fahren, nicht einkaufen.
    Der Umgang mit diesen Gefühlen von Kontrollverlust und Ohnmachtserleben löst bei den Betroffenen zahlreiche Fragen aus, mit denen sie sich in ihren Krisen per Mail, am Telefon oder auch persönlich an uns wenden. Menschen, die schon lange keine Beratung mehr brauchten melden sich wieder, andere können ihre eigentlichen Beratungsziele, die sich auf die Gegenwart beziehen, nicht mehr verfolgen. Wieder andere sind zusätzlich von den strukturellen Folgen der Krise existentiell betroffen, wie z.B. von stark verzögerten Anträgen auf Erwerbsminderung, fehlenden Hilfeplangesprächen und anderem.

Dies stellt uns in der Versorgung vor strukturelle Herausforderungen:

  • Einige Menschen können wir nicht sehen, weil sie zu große Angst haben oder Risikopatienten sind.
  • Einige sind mit dem Medium Telefon überfordert, weil sie nur im Keller oder auf dem Dachboden ungestört reden könnten und da ist kein Empfang…
  • Einige können nicht per Video beraten werden, weil ihre Gewalterfahrungen gefilmt worden sind.
  • Viele Beratungen sind in der normalen Zeit von 1 Stunde nicht leistbar oder müssen mehrmals die Woche angeboten werden.

Über all dem hängt für uns alle die Frage, wie stark die aktuelle Gefährdungssituation für Kinder, Jugendliche und Erwachsene gerade ist und eine gewisse Hilflosigkeit, dem nicht ausreichend begegnen zu können, auch wenn wir versuchen, so weit und viel wie möglich auf die Hilfe und Unterstützung aufmerksam zu machen, die wir aktuell zur Verfügung stellen.

Einiges, wie z.B. Prävention in Schulen oder Fortbildungen können wir gerade nicht durchführen. Anderes fordert uns aber umso mehr heraus.

Wir wünschen uns, dass diese ganz spezielle Dynamik des Themas (sexualisierter) Gewalt neben der wirtschaftlichen Sicht auf die Krise einen deutlichen Stellenwert hat und die sorgenvolle Situation für Betroffene und Berater*innen nicht noch weiter belastet wird.

Mit Respekt für unsere gemeinsamen Herausforderungen und Aufgaben und mit den herzlichsten Wünschen für Ihre Gesundheit

Das Team der Beratungsstelle Zartbitter Münster

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